Corona Tagebuch
Vielen Dank an Theresia Anwander, vorarlberg museum, für die Anfrage und die wichtige Idee.
Donnerstag
19. März
Ein Hoch auf Videospiele: Volksschulkinder in Japan haben ihre ausgefallene Abschlussveranstaltung des Schuljahres auf Minecraft gefeiert – Idee und Durchführung kamen von den Kindern. Dazu errichteten sie eine eigene Halle mit Bühne, Beleuchtung und Sitzplätzen und führten die zeremonielle Verabschiedung durch. In den Nachrichten wird die Verkürzung der österreichischen Sommerferien angedacht. Strahlend blauer Himmel, mein Sohn plädiert für eine Verlängerung seiner Videospiele-Zeit, aber so weit sind wir noch nicht. Es wird zunächst eine Fahrradrunde zu zweit auf abgelegenen Wegen, danach zwei Stunden Schule an meinem Schreibtisch. Bis dahin gehört die Wohnung mir allein, ein derzeit seltenes Vergnügen.
Mittwoch
18. März
Die Grenzen zu Ungarn und Deutschland sind im Chaos, LKW Staus, Autofahrer werden nach Stunden des Wartens zurückgeschickt. Ich bleibe zu Hause und arbeite meine offenen Projekte ab. Ein Mathematiker der TU Wien berichtet, dass erste zarte Auswirkungen zu sehen seien, die Ansteckungskurve flacht ab. Aber auch die Schutzausrüstung in den Spitälern flacht ab, dabei stehen wir ganz am Anfang. Die olympischen Spiele in Japan werden im Sommer sicher stattfinden, lassen die Veranstalter wissen. In Italien stirbt derzeit alle 4 Minuten ein Mensch an der Virusinfektion, die Spitäler sind an der Grenze der Belastbarkeit. Ich lerne ein neues Wort: Triage. Es bedeutet, die Ärzte müssen entscheiden, wem sie helfen werden und wen sie sterben lassen müssen. Die isolierten Sterbenden verabschieden sich in Italien telefonisch von ihren Familien. Die Schweiz ruft den Notstand aus, 8.000 Soldaten stehen zur Verfügung. Unser gestörter Ex-Minister Kickl reitet gegen die GIS, während der ORF zur Hochform aufläuft und eine wohltuende Sachlichkeit und Professionalität an den Tag legt. Ich denke kurz darüber nach, welches Szenario wir hätten, wäre die FPÖ noch an der Regierung beteiligt. Frau Hartinger-Klein täglich im Live-Ticker mag man sich nicht ausdenken, Kickls perverse Lust an Krisenszenarien lässt hässliche Szenen erahnen – die zum Glück keine Realität haben. Das war knapp.
Dienstag
17. März
Berufsarbeit, die nicht aufschiebbar ist, darf weiter ausgeführt werden. Ich gehöre nicht zu dieser Gruppe, fahre aber trotzdem ins Büro, weil einiges nicht erledigt ist und home office vorbereitet werden will.
Bei uns beginnt das Homeschooling, mit dem ich seit vielen Jahren liebäugle. Mein Sohn genießt das Ausschlafen und das chillige Lernen irgendwann untertags. Außerdem gibt es eine tägliche Sporteinheit an der frischen Luft, solange das erlaubt ist. Spazieren ist alleine oder zu zweit möglich, sofern die Person im selben Haushalt lebt. Die Zahl der Infektionen steigt, Schutzkleidung wird inzwischen über unsere Organisation koordiniert, die Anspannung im Büro steigt bei den Verantwortlichen. Inzwischen lese ich über Corona-Partys in Deutschland und muss meine Gedanken zügeln. Nein, ich wünsche niemandem eine Krankheit.
Erste Gebiete sind unter Quarantäne gestellt, das gesamte Arlberggebiet und Skigebiete in Tirol. Der Tiroler Landesrat Tilg hat beim Briefing über Öffentlichkeitsarbeit in Krisenzeiten nicht zugehört. Ein peinliches ORF-Interview, das ihn den Job kosten könnte, aber wir sind ja in Österreich. Zurücktreten war früher.
Auszug aus einem Bericht der NZZ: Netflix ist kein Menschenrecht. Schon gar nicht in einer Notlage –
Wegen der Überlastung der Kommunikationsnetze erwägt der Bund eine Blockade von Streaming-Diensten. Statt sich zu empören, sollte die Bevölkerung dafür sorgen, dass dies nicht nötig wird.
Montag
16. März
Seit heute gilt Ausgehverbot in Österreich, noch sitzen Menschen im Café, die erst um 15 Uhr geschlossen werden müssen. Es ist ein strahlender Frühlingstag mit einem beeindruckend blauen Himmel ohne Kondensstreifen. Am Nachmittag kommt die Nachricht in den Medien, dass die EU die Außengrenzen schließen wird. Ich sitze an der neuen Homepage und erlebe eine homöopathische Nachwirkung einer tiefen Erschöpfung in Anbetracht der vielen Projekte, die ich sichten und zusammentragen muss. Was ich in den letzten Jahren alles gearbeitet habe macht mich nachdenklich. Zum Glück bin ich aufgerufen, daheim zu bleiben. Die Geschäfte sind geschlossen, außer Lebensmittel, Apotheken und Trafiken. Soziale Kontakte dürfen nur noch mit Menschen, mit denen man zusammenlebt, weitre geführt werden. Keine Besuche von Freundinnen mehr.
Sonntag
15. März
Ausgangsbeschränkungen. Ein schöneres Wort für Ausgangssperre.
Tritt ab sofort in Kraft, wird ab Montag geahndet. Wir sind in der Boulderhalle, die Kinder spielen fangen und klettern. Wer Jugendliche daheim hat, fürchtet sich sofort vor dem Bewegungsmangel und wie sich dieser auf die Stimmung auswirken kann. Ich telefoniere mit F. und wir beschließen, dass unsere Verabredung noch steht – er richtet meine neue Webseite so ein, dass ich sie die nächsten Tage in Ruhe befüllen kann. Ein überfälliges Projekt, für das jetzt endlich Zeit sein wird. Um 18 Uhr ein erstes Balkonkonzert der Bregenzer Musiker/innen aus Fenstern, Balkonen und in Höfen.
Samstag
14. März
Delphine in den italienischen Häfen, saubere Luft über den chinesischen Metropolen. Das Wasser in den Kanälen Venedigs ist so klar wie nie, die Natur atmet auf.
Freitag
13. März
Es wird auch in Zukunft keine Ausgangssperre geben, sagt Gesundheitsminister Rudi Anschober in den Nachrichten. Die Schulen sollen ab Mittwoch geschlossen sein, es wird den Eltern freigestellt, ob die Kinder am Montag noch zur Schule gehen sollen. Die Deutschschularbeit meines Sohnes am Montag wird abgesagt.
Donnerstag
12. März
Ruben bringt seine gesamten Schulsachen mit nach Hause. Er wird noch Instruktionen bekommen, was in den Wochen bis nach den Osterferien zu lernen und zu üben ist.
Mittwoch
11. März
Geisterkonzert in Hamburg: James Blunt spielt in der Elbphilharmonie vor dem leeren Saal, weil das Konzert abgesagt, aber gestreamt wird. Meine Freundin in Hamburg tanzt mit ihrer Tochter im Wohnzimmer. Sie ahnt die Geschehnisse immer etwas voraus, weil sie in ihrem früheren Leben Krisenmanagerin war und das verwendete wording kennt. Die Geschäftsleitung der Elphi reagiert weit vorausschauender als die deutsche Bundesregierung, die Hamburger Staatsoper zieht ihr Programm durch – im Publikum vorwiegend 65+ Menschen. Sie macht mich darauf aufmerksam, dass auch ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen werden darf. Bestimmte Dinge möchte ich nicht hören.